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Kommunikationssituation

Grundlegendes

Die Erfassung der kommunikativen Struktur von Grabepigrammen ist aus zwei Gründen gleichermaßen anspruchsvoll wie faszinierend. Zum einen steckt die Erforschung dieser Thematik wie die Anwendung moderner literaturwissenschaftlicher Konzepte in der klassischen Philologie allgemein noch in den Kinderschuhen, zum anderen ist die kommunikative Situation, wie sie sich in Grabepigrammen darstellt, komplexer als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Einen bedeutenden Versuch, sich dieser Fragestellung anzunähern, unternahm George Walsh, der 1991 in seinem Aufsatz „Callimachean passages: the rhetoric of epitaph in epigram“ den „struggle against an indifferent stranger’s haste“[1] als zentralen kommunikationspragmatischen Aspekt von Grabepigrammen herausstellte. Dem Ziel jeder Grabinschrift, die Erinnerung an verstorbene Personen aufrecht zu erhalten, stehe das faktische Desinteresse all jener Menschen gegenüber, die an diesem – in der Antike meist am Straßenrand befindlichen – Grab vorübergehen und durch die Lektüre der Inschrift diese Erinnerung perpetuieren könnten. Dieser Umstand führe beim Verfassen der Grabinschrift zu dem Problem, erst die Aufmerksamkeit und das Interesse dieses sogenannten „Wanderers“ (viator) erlangen zu müssen, was beispielsweise dadurch erreicht werde, dass dieser als Freund (hospes) angesprochen, sein Mitleid erregt oder seine Neugier geweckt werde. Diese informellen Überlegungen sowie weitere interdisziplinär verortete Quellen wurden 2005 von Doris Meyer in ihrer bahnbrechenden Studie „Inszeniertes Lesevergnügen. Das inschriftliche Epigramm und seine Rezeption bei Kallimachos“ systematisiert, in der modernen Linguistik verankert und im Detail analysiert. Sie fasst die verschiedenen textuellen Strategien, die die Chancen der Rezeption erhöhen sollen, unter dem Titel der „Appellstruktur“ von Grabepigrammen zusammen, die darin bestehe, an den Wanderer zu appellieren, d.h. ihn dahin zu lenken, die Inschrift zu lesen, indem ein echter Dialog, also Mündlichkeit fingiert werde. Die Tatsache, dass dieser fingierte Dialog in Wirklichkeit dissoziiert, also zeitlich versetzt stattfinde, werde dabei durch räumliche, temporale und personale deiktische Bezüge verschleiert. Die Autorin oder der Autor des Grabepigramms nutze also die „durch die Zeigwörter hier-jetzt-ich definierte ‚Origo‘ des Zeigfeldes“[2], um den Eindruck zu erwecken, sich im selben Wahrnehmungsfeld wie der Wanderer aufzuhalten und so ein in situ-Gespräch zu suggerieren, das die Aufmerksamkeit des Wanderers leichter auf sich ziehe als ein Text, der keinen Bezug zu ihm herstelle.   
     Die Tatsache, dass Grabepigramme wesentlich von Mündlichkeit geprägt sind, ist grundlegend für die Analyse ihrer kommunikativen Strukturen. Dies gilt auch und insbesondere für rein literarische Grabepigramme, derer es viele in der hier behandelten Sammlung gibt, da diese die aus praktischer Notwendigkeit entstandenen Gattungskonventionen bewusst auch ohne diese Notwendigkeit weiterführen, um überhaupt als Grabepigramme erkannt werden zu können. Ein weiteres Caveat betrifft den Umstand, dass nur ein Teil der Epigramme dieser Sammlung als Grabepigramme bezeichnet werden kann. Da die Analyse der kommunikativen Situation in diesen allerdings die größte Komplexität aufweist, bereitet es keine Probleme, die anderen Textgattungen ebenfalls in das Raster einzuordnen, das mit Blick auf die Grabepigramme etablierte wurde.         
     Wie im Folgenden genauer ausgeführt wird, wurden die Gedichte der Sammlung zunächst nach der Art ihrer Darstellung in dramatisch und narrativ eingeteilt[3]. Den Gedichten in dramatischer Darstellung entspricht dabei immer ein inneres Kommunikationssystem, den Gedichten in narrativer Darstellung immer ein vermittelndes und bisweilen auch ein inneres Kommunikationssystem. Schließlich wird auf die verschiedenen sprechenden und adressierten Personen (?) eingegangen.

Dramatische Darstellung, narrative Darstellung und korrespondierende Kommunikationssysteme

Die Unterscheidung in dramatische und narrative Darstellung, die wir hier auf Epigramme anwenden werden, stützt sich maßgeblich auf Manfred Pfisters grundlegendes Werk „Das Drama. Theorie und Analyse“, das, ursprünglich 1977 erschienen, seit 2001 in seiner nunmehr 11. Auflage vorliegt[4].
     Pfister sieht den fundamentalen Unterschied zwischen dramatischen und narrativen Texten in ihren jeweils korrespondierenden Kommunikationssystemen (KS). Vereinfacht gesagt – was für unsere Zwecke vollauf ausreicht – beinhaltet in dramatischen Texten das äußere KS, in dem die reale historische Person der/des Autor:in den Text an die ebenfalls reale historische Person der/des Leser:in richtet, ein inneres KS, in dem die Figuren des Dramas miteinander sprechen. Auch narrative Texte entstehen natürlich in einem äußeren KS und es kann zudem auch in narrativen Texten ein inneres KS geben, wenn zwei Figuren der Erzählung in direkter Rede miteinander sprechen. Der Unterschied zwischen narrativen und dramatischen Texten liegt dagegen darin, dass es in narrativen Texten noch ein drittes KS gibt, das zwischen dem äußeren und dem inneren angesiedelt ist: das vermittelnde KS. Diese Position wird vom fiktiven Erzähler eingenommen. Während also in narrativen Texten die Geschichte (d.h. das innere KS), den Leser:innen (d.h. dem äußeren KS) von einem Erzähler vermittelt wird, wird sie in dramatischen Texten unvermittelt dargestellt.         
     Die Unmittelbarkeit der Darstellung in dramatischen Texten hat eine absolute Situationsgebundenheit des Dargestellten in Zeit und Ort zur Folge: „Eine dramatische Rede hat mit einer normalsprachlichen Rede in einem alltäglichen Dialog das Moment der situativen Gebundenheit an das hic et nunc der Gesprächsteilnehmer gemeinsam; diese situative Gebundenheit setzt beide ab von der mehr oder weniger stark ausgeprägten Situationsabstraktheit narrativer oder expositorischer Rede“[5]. Zudem erzeugt sie bei der/beim Leser:in den Eindruck, das Geschehen spiele sich in Echtzeit vor ihren/seinen Augen ab: „Das Ausfallen des vermittelnden Kommunikationssystems in dramatischen Texten erzeugt gleichzeitig den Eindruck unmittelbarer Gegenwärtigkeit des dargestellten Geschehens, der Gleichzeitigkeit des Dargestellten mit der Darstellung und dem Vorgang der Rezeption“[6]. Aufgrund ihrer entstehungsgeschichtlich bedingten Strukturen der Mündlichkeit weisen auch Grabepigramme diese Eigenschaften auf, die Pfister hier für das Drama beschreibt: Der fingierte Dialog mit dem Wanderer funktioniert durch deiktische Verweise auf denselben Wahrnehmungsraum, was für den Wanderer die Illusion eines unvermittelten, also unmittelbaren, sich in Echtzeit abspielenden Gespräches erzeugt. Ebenfalls bedeutsam ist eine weitere Parallele: „Die dramatische Rede ist jedoch ‚semantisch viel komplizierter‘ als eine Rede in einem gewöhnlichen Gespräch, denn bei ihr kommt noch ‚ein weiterer Faktor hinzu: das Publikum. Dies bedeutet, daß hier zu allen direkten Dialogteilnehmern noch ein weiterer Beteiligter tritt, der schweigt, aber doch wichtig ist, denn alles, was im Theaterdialog gesagt wird, zielt auf ihn und soll auf sein Bewußtsein wirken“[7]. Eine höchst ähnliche Situation findet sich in literarischen Grabepigrammen, die ebenfalls über einen solchen doppelten Adressaten verfügen können, wenn sie zwar nominell an einen Wanderer gerichtet sind, doch aufgrund der Tatsache, dass sie nur als Buchepigramm vorliegen offensichtlich ist, dass der tatsächliche Adressat ein:e Leser:in ist, die/der nicht als Wanderer an einem echten Grab steht. Diese:r Leser:in hört gewissermaßen als stilles Publikum dem dargestellten Gespräch zwischen Inschrift und Wanderer zu.
      Als Epigramme in dramatischer Darstellung bezeichnen wir also all jene, in denen ohne vermittelnde Erzählerinstanz die Illusion eines unmittelbaren und sich in Echtzeit abspielenden Gespräches erzeugt wird. Diesen Eindruck einer direkten Rede erzeugen dabei deiktische Verweise in der hier-jetzt-ich-Origo des Zeigfeldes der/des Leser:in[8], also alle deiktischen Verweise und Ausdrücke, die suggerieren, dass sich die/der Sprecher:in der Inschrift

  1. am selben Ort (e.g. hic) und/oder     
  2. zur selben Zeit (e.g. nunc) wie die/der Leser:in befindet und/oder     
  3. personale du/ihr-Ansprachen (sofern diese nicht nur eine Apostrophe darstellen) und/oder    
  4. ich-/wir-Aussagen ohne personale du/ihr-Ansprachen trifft und/oder 
  5. jede Art von Handlung fehlt.

     Dieser letzte Punkt betrifft einige wenige Epigramme, die nicht einmal eine Minimalerzählung enthalten, in denen also keinerlei Handlung oder Zustandsveränderung stattfindet und die aus diesem Grund eher als Aussage denn als Erzählung aufzufassen sind. Bei Epigrammen, die keines dieser fünf Kriterien erfüllen, handelt es sich um Epigramme in narrativer Darstellung, die im Gegensatz zu den Epigrammen in dramatischer Darstellung von einer vermittelnden Erzählerinstanz und Situationsabstraktheit gekennzeichnet sind.

Sprecher:innen und Adressat:innen[9]

Gedichte in narrativer Darstellung

Für die Sender- und Empfängerrollen des vermittelnden KS nutzen wir die Begriffe „Erzähler (narrativ)“ und „Erzähleradressat (narrativ)“. Diese Rollen werden in allen Fällen durch einen anonymen Erzähler und die kollektive Nachwelt ausgefüllt, d.h. ein anonymer Erzähler richtet seine Geschichte an keinen bestimmten Adressaten, sondern an die Nachwelt in ihrer Gesamtheit.        
     Für die Rollen im inneren KS nutzen wir die Begriffe „Figurensprecher (narrativ)“ und „Figurenadressat (narrativ)“, um auszudrücken, dass es sich hierbei um eine Figurenrede in einem narrativen Gedicht handelt.

Gedichte in dramatischer Darstellung

Da es bei diesem Gedichttyp kein vermittelndes KS gibt, wenden wir uns direkt den Sender- und Empfängerrollen im inneren KS zu. Für diese nutzen wir die Begriffe „Sprecher (dramatisch)“ und „Sprecheradressat (dramatisch)“, um sie von Erzähler und Erzähleradressat der narrativen Gedichte zu unterscheiden.
     In manchen dramatischen Gedichten zitiert zudem die/der Sprecher:in die Aussage einer anderen Person und gibt sie in direkter Rede wider. Um diese „Rede in der Rede“ zu kennzeichnen, gibt es auch bei diesem Gedichttyp einen „Figurensprecher (dramatisch)“ und einen „Figurenadressat (dramatisch)“. Der Zusatz „dramatisch“ unterscheidet diese Figurenrede hierbei von der Figurenrede der narrativen Gedichte, die den Zusatz „narrativ“ aufweist.

Unabhängig vom Gedichttyp tauchen in unserer Sammlung die folgenden Sprecher:innen auf:

  • Anonyme:r Sprecher:in (eine nicht näher gekennzeichnete Stimme)
  • Andere:r Sprecher:in (eine näher gekennzeichnete Stimme, die keiner der anderen Kategorien zugehörig ist)
  • Gottheit/Personifikation
  • Heilige:r
  • Monument[10]
  • Tod
  • Verstorbener
  • Wanderer

Als Adressat:innen treten auf:

  • Andere:r Adressat:in
  • Gottheit/Personifikation
  • Heilige:r
  • Kollektive Nachwelt
  • Leser:in
  • Monument
  • Tod
  • Verstorbener
  • Wanderer

 

[1] Walsh 1991, 81.

[2] Meyer 2005, 20.

[3] In fünf Fällen ist die Darstellung gemischt, indem eine dramatische Anrede an den Verstorbenen in eine ausgeprägt narrativ dargestellte Erzählung eingelegt oder an sie angehängt wurde  (vgl. dazu die „Episierung des Dramas“ bei Pfister 2001, 103–121).

[4] Auch Doris Meyer bezieht sich auf diese Überlegungen Pfisters (2005, 13).

[5] Pfister 2001, 149.

[6] Ebd., 23.

[7] Ebd., 149. An dieser Stelle zitiert Pfister Mukařovský 1967, 151.

[8] Falls der Verstorbene als Sprecher oder Adressat involviert ist, handelt es sich aufgrund seiner reellen Abwesenheit im Zeigfeld nicht um eine Deixis ad oculos et aures, sondern eine Deixis am Phantasma (Meyer 2005, 18f.).

[9] Anreden in Form einer Apostrophe werden nicht unter den Adressat:innen erfasst, da diese nur einen stilistischen Effekt erzeugen sollen, die jeweils Angesprochenen aber keine pragmatisch Ist das hier ein linguistischer Fachbegriff? bedeutungstragende Rolle als Adressat:innen des Gedichts tragen.

[10] Da in der Praxis oft kaum zu entscheiden ist, ob das Grabmal oder die Grabinschrift spricht, schließen wir uns dem Vorschlag Helmut Häusles an, die Verbindung dieser beiden als „Monument“ zu bezeichnen, in der manchmal das Grabmal und manchmal die Grabinschrift stärker im Vordergrund stehen kann (Häusle 1980, 29–63). Dass der leblose Gegenstand des Grabmonuments über eine eigene Stimme verfügt und sprechen kann, ist seit Beginn der altgriechischen Grabepigrammatik charakteristisch für diese Gattung und dient der oben beschriebenen Fiktion eines Gespräches in Echtzeit (Tueller 2008; Christian 2015, 28–46).

 

Literaturverzeichnis

Christian 2015: Timo Christian, Gebildete Steine. Zur Rezeption literarischer Techniken in den Versinschriften seit dem Hellenismus, Göttingen 2015.

Häusle 1980: Helmut Häusle, Das Denkmal als Garant des Nachruhms. Eine Studie zu einem Motiv in lateinischen Inschriften, München 1980.

Meyer 2005: Doris Meyer, Inszeniertes Lesevergnügen. Das inschriftliche Epigramm und seine Rezeption bei Kallimachos, Stuttgart 2005.

Mukařovský 1967: Jan Mukařovský, Kapitel aus der Poetik (übers. Walter Schamschule), Frankfurt/M. 1967.

Pfister 2001: Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, München 2001.

Tueller 2008: Michael A. Tueller, Look who’s talking. Innovations in Voice and Identity in Hellenistic Epigram, Leuven 2008.

Walsh 1991: George B. Walsh, Callimachean Passages. The Rhetoric of Epitaph in Epigram, Arethusa 24/1, 1991, 77–105.