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Topoi-Matrix

Grundlegendes

Der zentrale Teil der hier dargestellten Analysen der Gedichte in Paolo Giovios Elogia virorum literis illustrium (ed. 1546) sowie der späteren Ergänzungen durch Johannes Latomus (ed. 1557) betrifft ihren topischen Gehalt, d. h. diejenigen wiederkehrenden inhaltlichen Motive oder Begriffe („Topoi“), die charakteristisch für ihre Gattung, hier insbesondere die des Epitaphs, sind und die daher von Leser*innen als genrebildend wahrgenommen werden.

Die von uns induktiv aus unserem speziellen Corpus herausgearbeitete Topoi-Matrix umfasst knapp über 200 hierarchisch organisierte und nach Themengebieten geordnete Kategorien, die sich im Wesentlichen mit den bereits in der Literatur bekannten und erarbeiteten epitaphienspezifischen Topoi-Kategorien decken (Lier 1903 und 1904; Tolman 1910; Springer 1955; Esteve-Forriol 1962, an dessen Begriffen die Namen unserer Kategorien teilweise angelehnt sind; Lattimore 1962 sowie Lenzinger 1994), diese aber nicht umfänglich enthalten, sondern nur die in unserem Corpus vorkommenden Topoi abbilden. In den meisten Fällen erachteten wir ein mindestens dreimaliges Vorkommen desselben Motivs oder Begriffs als ausreichend für die Definition einer Kategorie, in Einzelfällen auch ein selteneres, so uns das Motiv besonders relevant oder spezifisch erschien.

 

Die Kategorien
 

Descriptio vitae et mortis

Die erste Hauptkategorie trägt den Titel Descriptio vitae et mortis („Beschreibung des Lebens und des Todes“) und enthält dementsprechend die Erwähnungen aller Informationen, die das Leben oder die Todesumstände des Verstorbenen betreffen:        

  • seinen Namen: Nennung im 1.-6. Fall sowie Wortspiele mit dem Namen;
  • sein Aussehen;
  • zentrale Beziehungen zu anderen Menschen: ehelich, familiär, beruflich;
  • biographische Schlüsselorte: Herkunftsort, Ort des beruflichen Wirkens/literarischen Schaffens („ubi floruit“), Exil, Ort der Bestattung, Ort des Todes sowie als Spezifizierung: Ort der Bestattung bzw. des Todes in der Fremde, d. h. außerhalb des Heimatortes;
  • seinen Beruf;
  • Kritik an seiner Person: sowohl charakterlich, d. h. in Bezug auf sexuell frivoles Verhalten, religiöse Kontroversen und generelle oder spezifische Charaktereigenschaften, als auch literarisch, d. h. in Bezug auf die Form oder den Inhalt seiner literarischen Werke, sowie spezifisch die Astrologenschelte;
  • Lob seiner Person: seines Charakters und seiner Fähigkeiten, was in den Gedichten meist kaum voneinander zu trennen ist, Lob in Form der Verkündung seines ewigen bzw. weltumspannenden Ruhmes, seiner Innovationskraft („primus fecit“) oder der Beschreibung seiner Grabstätte als inadäquat für eine derart bedeutende Person;
  • sein Alter sowie
  • die Ursache seines Todes: durch Krankheit, Unfall, Selbstmord, Mord oder die Todesstrafe.
     

Descriptio mortui et sepulchri

Die zweite Hauptkategorie (sowie auch die vier folgenden) ist chronologisch nach der ersten anzuordnen: Descriptio mortui et sepulchri („Beschreibung des Toten und des Grabes“) umfasst alle Bezugnahmen auf die konkrete Grabstätte des Verstorbenen oder ihre Umgebung bzw. Dinge, die in ihrer Umgebung passieren:

  • Bezugnahmen auf den Leichnam, vornehmlich in den häufigsten nominalen Synonymen: artus, cadaver, cinis, corpus, exuviae, mortuus, ossa oder pulvis;
  • Bezugnahmen auf die Situierung des Leichnams im Grab, vornehmlich in den häufigsten verbalen Synonymen und daraus gebildeten Komposita: claudere, condere, cubare/*cumbere, iacere, quiescere, sepeliri, situs esse oder tegere;
  • Bezugnahmen auf das Grab, vornehmlich in den häufigsten nominalen Synonymen: bustum, lapis, marmor, rogus, saxum, sepulchrum, tumulus oder urna;
  • Bezugnahmen auf die Grabinschrift,
  • Bezugnahmen auf Pflanzen auf dem Grab oder in seiner Nähe, entweder allgemein oder spezifisch: Kostwurz, Lilie, Lorbeer, Myrte, Rose, Safran, Thymian, Veilchen, Weihrauch, Dornen, Giftpflanzen;
  • Beschreibungen des Grabes als locus amoenus, d. h. als idealisierte Naturlandschaft: als Zustand in der Erwähnung von vorhandenen Pflanzen, kühlendem Schatten und Wasser oder als formulierte Hoffnung für die Zukunft der Grabstätte;
  • Beschreibungen des Grabes als locus horribilis, d. h. als furchteinflößendes und verzerrtes Gegenbild des locus amoenus (zum locus amoenus und locus horribilis s. Christian 2015, 300–360);
  • Bezugnahmen auf den topographischen Kontext des Grabes, i. e. grabnahe Erde oder Stadt;
  • Beschreibungen von am Grab vollzogenen rituellen Handlungen, i. e. die Bestattung selbst oder Votivgaben bzw. Opferhandlungen, sowie
  • deiktische Bezugnahmen auf die Hier-Ich-Jetzt-Origo (s. dazu die Erklärungsseite zur „Kommunikationssituation“) der am Grab befindlichen Person, i. e. personale, lokale oder temporale Deixis.
     

Lamentatio

Die dritte Hauptkategorie, Lamentatio („Klage“), umfasst Beschreibungen der Trauer der Hinterbliebenen sowie typische Inhalte ihrer Klagen:   

  • trauernde Menschen;
  • trauernde Gottheiten und Personifikationen;
  • Trauergesten, i. e. Raufen/Reißen der Haare sowie Weinen;
  • mors immatura, i. e. die Anklage an den personifizierten Tod, den Verstorbenen zu früh geholt zu haben, bzw. das Beklagen eines als zu früh empfundenen Todes;
  • mors impia, i. e. die Anklage an den personifizierten Tod, frevelhaft oder grausam zu sein, bzw. das Beklagen eines als frevelhaft oder grausam empfundenen Todes;
  • mors invida, i. e. die Anklage an den personifizierten Tod, neidisch auf den Verstorbenen gewesen zu sein und ihn deswegen weggeholt zu haben;
  • mors rapuit, i. e. die Beschreibung des Todes als „geraubt werden“, sowie
  • den klagevollen Vergleich der Vergangenheit, als der Verstorbene noch lebte, mit der Gegenwart.
     

Consolatio

Die vierte Hauptkategorie enthält nach der Lamentatio nun die Themen der Consolatio („Trost“), typische Konzepte und Wendungen, die den Hinterbliebenen Trost für ihren Verlust spenden sollen:

  • Euphemismen für Grab und Tod;
  • Beschreibungen der (als faktisch oder metaphorisch empfundenen) Unsterblichkeit des Verstorbenen: verbunden mit dem contemptus mundi-Motiv (d. h. mit einer generellen Geringschätzung des Diesseits zugunsten des Jenseits), das Fortleben der Tugenden des Verstorbenen oder des Verstorbenen selbst aufgrund seiner Tugenden, der tröstende Vergleich der Vergangenheit im mühevollen Diesseits mit der Gegenwart im seligen Jenseits sowie Ausdrücke der Unsterblichkeit der Seele durch den Verweis auf die Antithese des vergänglichen Körpers und der unsterblichen Seele und ihren damit verbundenen Aufstieg in den Äther (aether), den Himmel (caelum), zu den Sternen (astra), ins dezidiert christliche oder mythische Jenseits oder in Form des Motivs der Rückgabe des Körpers an die Erde und der Seele an den Himmel sowie
  • Beschreibungen der Notwendigkeit der Sterblichkeit aller Menschen, i. e. der Tod als unausweichliches Schicksal oder als Befreiung von den Übeln des Lebens.
     

Viator-Apostrophe

Die fünfte Hauptkategorie könnte als typischste für die Gattung des Epitaphs gelten, die Viator-Apostrophe, d. h. die direkte Ansprache an eine am Grab vorübergehende Person, den so genannten viator („Wanderer“), durch den Verstorbenen oder das Grab/die Grabinschrift selbst zum Zwecke der Erregung seiner Aufmerksamkeit und in weiterer Folge der Erhaltung der memoria des Verstorbenen. Diese imaginierte Ansprache erfolgt, indem der viator die Grabinschrift liest und den Verstorbenen bzw. das Grab dadurch „sprechen“ lässt. In fiktiven Epitaphien dient diese spezifische kommunikative Darstellungsweise natürlich nur mehr als Erkennungsmerkmal der Gattung (s. dazu die Erklärungsseite zur „Kommunikationssituation“ sowie die Erklärungsseite zur „Gattungsterminologie“). Die häufigsten an den viator gerichteten Ansprachen in unserem Corpus umfassen:

  • die bloße Ansprache an den Wanderer durch ein Grußwort;
  • die Aufforderung, vor dem Grab stehenzubleiben;
  • die Aufforderung, am Grab zu verweilen;
  • die Aufforderung, die Grabinschrift zu lesen;
  • die Aufforderung, des Verstorbenen zu gedenken;
  • die Aufforderung, dem Verstorbenen Gutes zu wünschen;
  • die Aufforderung, für den Verstorbenen zu opfern;
  • die Aufforderung, das Grab nicht zu beschädigen oder zu stören;
  • das Verbot, aufgrund des Todes des Verstorbenen zu trauern („Beweinungsverbot“);
  • generelle moralisierende Aussagen, in den meisten Fällen in Bezug darauf, wie der viator in Anbetracht des auch ihn erwartenden Todes sein Leben führen sollte;
  • Segenswünsche an den viator;
  • als proleptische Antwort formulierte Aussagen, d. h. Aussagen nach dem Schema „Wenn du dich fragst, …“, die eine noch nicht gestellte Frage des viator vorwegnehmen und im Voraus beantworten;
  • die Aufforderung, das Grab zu verlassen und weiterzugehen;
  • die Verabschiedung von ihm oder
  • die Weigerung, überhaupt mit dem viator zu sprechen.
     

Formulae (& Variationen)

Die sechste Hauptkategorie, Formulae (& Variationen), enthält in unserem Corpus verwendete feststehende und formelhafte Phrasen sowie leichte Abwandlungen derselben, die entweder als Information für die Nachwelt dienen oder Segenswünsche für den Verstorbenen ausdrücken:

  • cito raptus („schnell (sc. vom Tod) geraubt“);
  • hic iacet („hier liegt“);
  • hic situs est („hier befindet sich“);
  • ossa hic sepulta sunt („hier liegen seine Knochen begraben“);
  • sit tibi terra levis („möge die Erde leicht auf dir liegen“);
  • ossa molliter cubent („mögen deine Knochen weich liegen“);
  • ossa tibi bene quiescant („mögen deine Knochen angenehm ruhen“) sowie
  • requiescat in pace („möge er in Frieden ruhen“).
     

Numina

Die siebte Hauptkategorie enthält zusammengefasst unter dem Titel Numina („Göttliche Kräfte“) alle Bezugnahmen auf Wesen und Kräfte, die über der menschlichen Sphäre angesiedelt sind, also Bezugnahmen auf Figuren und Konzepte der antiken Religion, der christlichen Religion und des Schicksals allgemein:

  • Im Rahmen der antiken Religion sind erfasst: Erwähnungen der Manen (Totengeister), Erwähnungen von mythischen Gestalten (Hesperiden, Nymphen oder andere), Erwähnungen von Gottheiten (allgemein oder spezifisch: Amor, Apoll, die Chariten, Flussgottheiten, Jupiter, Mars, Merkur, Minerva, die Musen, die Parzen, Venus oder andere), Ansprachen an Gottheiten, Beschreibungen des Neides einer Gottheit auf die Talente oder Leistungen des Verstorbenen.
  • Im Rahmen der christlichen Religion sind erfasst: Bezugnahmen auf den christlichen Gott, Bezugnahmen auf weitere christliche Gestalten (Jesus Christus, Maria, Heilige) sowie Bezugnahmen auf das Jüngste Gericht.
  • Nicht offensichtlich im Rahmen einer bestimmten religiösen Vorstellung dargestellt sind schließlich noch die Bezugnahmen auf das Schicksal.
     

De viris literis illustribus

Die achte und letzte Hauptkategorie geht bisweilen über die klassischen epitaphienspezifischen Topoi hinaus, da es sich in der Sammlung Giovios ausschließlich um Gedichte für verstorbene Gelehrte handelt. Diese Kategorie umfasst also Topoi, die spezifisch für Epitaphien von gelehrten Personen sind (s. auch Goldschmidt/Graziosi 2018). Da diese Kategorie das Charakteristikum unseres Corpus ausmacht, haben wir sie im Detail ausgearbeitet und Unterkategorien, die sich speziell auf Eigenschaften von Gelehrten beziehen, an dieser Stelle gesammelt, auch wenn sie bereits in nicht gelehrtenspezifischer Bedeutung in einer anderen Hauptkategorie angesiedelt sind, so etwa lobende Aussagen unter Descriptio vitae et mortis, Aussagen über die Unsterblichkeit des Verstorbenen unter Consolatio oder Bezugnahmen auf die Musen unter Numina. Die Unterkategorien sind:

  • Bezugnahmen auf Werk und Wirken des Verstorbenen: allgemeine Bezüge auf seine Tätigkeit als Gelehrter, spezifische Bezüge, die beispielsweise einzelne Gattungen oder Stilelemente herausheben, oder Verweise auf konkrete Titel;
  • Ausdrücke der Unsterblichkeit des Gelehrten, die er durch sein Werk und Wirken erlangte;
  • Beschreibungen des Umstandes, dass der Gelehrte durch sein Werk und Wirken Unsterblichkeit an andere verlieh, beispielsweise dadurch, dass er diese Personen in seinem Werk positiv erwähnte;
  • lobende Bezugnahmen auf die Sprachkenntnisse des Gelehrten: Hebräisch, verschiedene Volkssprachen, Griechisch, Latein oder Griechisch und Latein zusammen in der speziellen Wendung utraque lingua, d. h. „beide Sprachen“;
  • lobende Beschreibungen des Verstorbenen als poeta laureatus, d. h. als Träger der Dichterkrone;
  • lobende Beschreibungen des Stils des Verstorbenen als „honigsüß“;
  • lobende Beschreibungen des Verstorbenen als abstammend von göttlichen Eltern;
  • lobende Beschreibungen des Verstorbenen als andere Gelehrten übertreffend;
  • Vergleiche des Verstorbenen mit historischen Persönlichkeiten, v. a. antiken Autoren wie Catull, Cicero, Homer, Horaz, Varro oder Vergil;
  • Vergleiche des Verstorbenen mit mythischen Persönlichkeiten, v. a. Orpheus oder Romulus;
  • Vergleiche des Verstorbenen mit literarischen Figuren;
  • Bezugnahmen auf eine durch den Verstorbenen bewirkte translatio studii, d. h. eine Übertragung von Literatur und Bildung in einen neuen geographischen Raum;
  • Bezugnahmen auf die Musen in Form einer Erwähnung, Ansprache, Aufforderung oder in Form der Erwähnung eines musenspezifischen geographischen Ortes oder des Umstandes, dass die Musen den Verstorbenen durch seinen oder nach seinem Tod als ihren Gefährten zu sich holten;
  • Ausdrücke der Dankbarkeit der Nachwelt für das Verdienst des Verstorbenen;
  • Ausdrücke der Schuld der Nachwelt für das Verdienst des Verstorbenen;
  • Beschreibungen des Grabes als leer, weil der Verstorbene andernorts weilt, beispielsweise bei den Musen;
  • klagevolle Beschreibungen der mit dem Tod des Gelehrten einhergehenden Verstummung oder Verwaisung, d. h. ohne Führung und Vorbild Zurück- oder Alleinelassen, eines Teils oder der vollständigen Bildung und/oder Literatur sowie
  • klagevolle Beschreibungen des mit dem Tod des Gelehren einhergehenden Verfalls oder „Sterbens“ eines Teils oder der vollständigen Bildung und/oder Literatur.
     

Literaturverzeichnis

Christian 2015: Timo Christian, Gebildete Steine. Zur Rezeption literarischer Techniken in den Versinschriften seit dem Hellenismus, Göttingen 2015.

Esteve-Forriol 1962: José Esteve-Forriol, Die Trauer- und Trostgedichte in der römischen Literatur untersucht nach ihrer Topik und ihrem Motivschatz (Diss.), München 1962.

Goldschmidt/Graziosi 2018: Nora Goldschmidt – Barbara Graziosi (edd.), Tombs of the Ancient Poets. Between Literary Reception and Material Culture, Oxford/New York 2018.

Lattimore 1962: Richmond Lattimore, Themes in Greek and Latin Epitaphs, Urbana (IL) 1962.

Lenzinger 1994: Judith Elisabeth Lenzinger, Philologische Untersuchungen mittellateinischer Vers-Epitaphien mit ausgewählten Beispielen aus römischen Kirchen (Diss.), Wien 1994.

Lier 1903: Bruno Lier, Topica carminum sepulcralium latinorum. Pars I & Pars II, Philologus 62/1 (1903), 447–477 und 563–603.

Lier 1904: Bruno Lier, Topica carminum sepulcralium latinorum. Pars III, Philologus 63/1 (1904), 54–65.

Springer 1955: Elisabeth Springer, Studien zur humanistischen Epicediendichtung (Diss.), Wien 1955.

Tolman 1910: Judson Allen Tolman, A Study of the Sepulchral Inscriptions in Buecheler’s „Carmina Epigraphica Latina“ (Diss.), Chicago 1910.